Berliner müssen in den Ferien zu Hause bleiben. Nicht mal im eigenen Land dürfen sie sich ein paar schöne Tage machen. Eine Tochter, ihr Vater und seine Enkelin klagen an….
Kürzlich las ich in einem Post eines Mannes, der die aktuellen Regelungen der Bundesregierung bezüglich Corona zu 100 Prozent gut heißt: „Wer verbietet denn Spaß? Ihr doofen Aluhutträger. Niemand hat die Freude verboten.“
Nun, mit der Freude ist es so eine Sache. Der eine erfreut sich am Tanzen in Clubs – das ist in der Tat verboten. Der andere hat Spaß an der Lektüre von Ringelnatz oder Morgenstern: ist zu Hause erlaubt. Wieder andere wollen ein bisschen durch die Lande reisen. Das ist diffizil. Gewisse Leute dürfen reisen, anderen, vor allem Berlinern, wurde diese kleine Freude verwehrt.
Mein Vater wird in Kürze 82. Er hat zwei Herzinfarkte überstanden, den Tod der geliebten Frau überwunden. Es geht ihm recht gut. Seine Wünsche für die letzten Jahre sind recht bescheiden: Ein bisschen reisen in der Umgebung wäre schön.
Seit einigen Jahren haben wir das etabliert. Wir, Tochter und Enkelin, kommen aus Berlin zum Vater nach Rheinland-Pfalz. Von dort aus besuchen wir eine Stadt in der Nähe. Vor zwei Jahren waren wir in Trier. Wir sind auch nach Luxemburg gefahren. Es war großartig. Allein die vielen Firmenschilder auf den Briefkästen waren die Reise wert. Schöne pinke Schuhe gab es auch noch.
In diesem Jahr hatten wir uns auf Würzburg geeinigt. Klein-Prag, wie man sagt. Wir freuten uns. Ein schönes Hotel mit Pool und Sauna war schnell gefunden.
Doch dann wurde es schwierig. Zuerst, bis 1. Oktober, war Würzburg Risikogebiet.
Wir lernten: Das tolle Wellnesshotel verlangt zwar den vor-Corna-Preis inklusive Nutzung von Pool und Sauna. Aber man kann uns nicht garantieren, dass man das Spa auch wirklich nutzen kann. Nur fünf Personen dürfen gleichzeitig hinein, Corona-Regeln sei Dank. Wenn fünf drin sind, hat der sechste Pech.
Zudem: Ein Städte-Trip bedeutet ja im Allgemeinen: Tagsüber schaut man sich Sehenswürdigkeiten an und geht bummeln. Abends isst man nett und genehmigt sich ein bis drei Gläschen Wein. Leider war das in Würzburg ab 23.00 Uhr nicht mehr möglich. Essen und Wasser trinken: ja. Wein, Bier, Cocktails: nein. Nicht gut.
Und es kam noch schlimmer: Der absolute Würzburg-Höhepunkt ist ein Schoppen auf der Alten Mainbrücke, die gerne mit der Prager Karlsbrücke verglichen wird. Ein Freund, der in Würzburg aufwuchs, empfahl mir dieses so wunderschöne Event. „Das muss man machen, wenn man in Würzburg ist.“ Leider wurde auch das gekappt. Die Stadt informierte auf ihrer Webseite: „Als weitere Maßnahme hat die Stadt Würzburg den Konsum von Alkohol auf der Alten Mainbrücke jeweils von Freitag bis Sonntag in der Zeit von 16 bis 6 Uhr des Folgetages verboten.“ .
Ich wartete ab. Die Reise sollte ja erst Mitte Oktober stattfinden. Und ja, ich freute mich: Anfang Oktober wurde Würzburg aus der Risikogebiete-Liste entfernt. Ich wollte das Hotel also buchen.
Doch dann kam der nächst Schock: Berlin wurde scheibchenweise zum Risikogebiet erklärt. Erst nur Neukölln, Mitte und einige andere Bezirke. Ich rief im Hotel an. Man bestätigte mir, dass ich als Prenzlbergerin gerne anreisen dürfte. Wir besprachen die Zimmer, die Details. Ich sagte: „Ich gehe es mit den Mitreisenden durch, koche Abendessen, danach rufe ich an und buche final.“
Zweieinhalb Stunden später, am frühen Freitagabend, rief ich erneut im Hotel an. Die nette Dame sagte: „Wir haben eine neue Liste bekommen. Nun ist ganz Berlin Risikogebiet. Sie dürfen leider nicht einchecken.“
Die x-te Reise ist gestrichen. Meine Tochter, mein Vater und ich konnten seit Jahren nicht verreisen. Mein Vater unter anderem wegen Herzinfarkten, wir wegen anderer Problematiken. Wir wollten im Sommer nach Mallorca reisen, endlich mal wieder: storniert. Wir wollten Mitte Oktober nach Würzburg fahren: Wir dürfen nicht. Nicht mal den Vater dürfen wir besuchen, wir verseuchten Berliner. Wir müssen zu Hause puzzeln und ins Netflix starren.
Mein Vater hat mit fast 82 nicht mehr ewig Zeit zu reisen. Er will zum Geburtstag nicht den 100sten Pullover geschenkt bekommen. Er möchte mit den Kindern und Enkeln noch ein bisschen was von der Umgebung sehen. Er möchte Zeit mit uns verbringen.
Er darf nicht. Er und wir werden gezwungen, zu Hause zu bleiben.
Nicht mal ihn zu Hause dürfen wir besuchen, wir verseuchten.
„Ich bin todkrank“, hauchte mir mein Vater heute ins Telefon. Ich erschrak. „Was ist los?“ Mein Vater: „Sofern ihr gefragt werden solltet auf Eurer Fahrt zu mir: Sagt, ich liege im Sterben. Dann müssen sie Euch durchlassen.“
Ich hätte all das niemals für möglich gehalten. Deutschland 2020.